Unsere Architekturlektüre-Highlights

Publikationen, die uns bewegt haben - die besten Bücher des letzten Jahres.

Traditionelle Bauweisen: Ein Atlas zum Wohnen auf fünf Kontinente
Bei all den modernen architektonischen Lösungen zwischen CAD, BIM und Smart Home ist der Blick auf den Ursprung der Profession durchaus inspirierend. Dazu empfiehlt sich das Buch „Traditionelle Bauweisen“, das sich als Atlas beschreibt, eigentlich aber eine individuell kuratierte Sammlung aus den schier unerschöpflichen Beispielen für vernakuläre Architektur ist. Vernakulär übersetzt sich mit traditionell und landestypisch – und beschreibt damit Bauten, die aus lokalen Ressourcen und mit vor Ort verfügbaren Werkzeugen entstehen und meist aus der Hand eines individuell Bauenden oder einer Gemeinde stammen. Bauen ist für Menschen in Subsistenzwirtschaft meist eine Fähigkeit von vielen und wurde mit Bezug auf Material, Vorgehen und Techniken über Jahrhunderte spezialisiert. Trotzdem könnten die Unterschiede zwischen einem sibirischen Zelt, indischen Lehmhütten oder den Baumhäusern der Korowai in Papua kaum größer sein. Etwa 40 verschiedene Typologien stellen der Herausgeber Christian Schittich und seine Co-Autoren vor, analysieren sie im Kontext von Kultur, Klima und Landschaft und zeigen konstruktive und funktionale Grundlagen im Detail. Gleichzeitig ist dieses Buch auf dem Weg von der Dokumentation zum Wissensspeicher – denn viele traditionelle Architekturen verschwinden im Zuge der Industrialisierung und Globalisierung.

Titelinformationen
Herausgeber: Christian Schittich
ISBN 978-3035616095, 384 Seiten, 79,95, erschienen beim Birkhäuser Verlag, www.degruyter.com

Architektur der 1950er bis 1970er Jahre im Ruhrgebiet
Diejenigen, die das Ruhrgebiet ihre Heimat nennen, werden in diesem Buch eine Reise in die Kulisse ihrer Vergangenheit finden. Zu den viele Gebäuden der 1950er bis 1970er Jahre, die in Gelsenkirchen, Dortmund oder Bochum als Zeugnis des Wirtschaftswunders entstanden. Nie wurde so eifrig gebaut wie in dieser Zeit. Und dieser Umstand erklärt vielleicht auch, warum der Rezipient beim Blick auf die Architektur der Bauten so blind für ihre funktionalen und ästhetischen Qualitäten ist. Deswegen wirkt dieses Buch, das sowohl dem Coffee Table, als auch als Reiseführer funktioniert, auch wie eine Legitimation. Es holt sie aus der Schublade schmuddeliger Tristesse zwischen Kohle und Beton und zeigt ihre gestalterische Relevanz. „Jede große Stadt hat ihr Wahrzeichen.“ schreiben die Autoren Tim Rienniets und Christine Kämmerer im Vorwort. „Einen Triumphbogen, eine Kathedrale oder einen Funkturm. Im Ruhrgebiet ist das anders.“ Die hiesigen Landmarken werden aus Fördertürmen und Schornsteinen gebildet – und haben als Route der Industriekultur bereits Erfolgsgeschichte im Kulturwandel geschrieben. Indem der Architekturführer die übergangenen Alltagsbauten des Ruhrgebiets in den Fokus rückt, initiiert er eine neue Wertschätzung. Und eben nicht nur für ikonische Klassiker wie die rohe Ruhr-Universität in Bochum, sondern auch für das geschwungene Rathaus in Castrop-Rauxel, das zylindrische Wohnhochaus in Herne oder Hannibal I und II in Dortmund.

Titelinformationen
Herausgeber: Tim Rieniets, Christine Kämmerer, StadtBauKultur NRW
ISBN 978-3-86206-755-8, 232 Seiten, 25 Euro, erschienen bei Verlag Kettler, www.verlag-kettler.de

Soviet Design: From Constructivism to Modernism. 1920-1980
Nicht nur das Bauhaus wollte die Welt radikal transformieren, in der Sowjetunion eröffnete Ende 1920 mit der VkhUTEMAS eine Kunsthochschule, die auf innovative gestalterische Methoden, Experiment und Avantgarde setzte. Nach der russischen Revolution von 1927 war die Gesellschaft wie elektrisiert, getrieben davon sich zu modernisieren – und die Geisteshaltung fand ihren Ausdruck in den Arbeiten von Malern, Bildhauern, Architekten und Designern. Namen wie Tatlin, Malevich oder Lissitzky waren in aller Munde – und auch im Westen liess man sich von der suprematistischen Malerei, einfachen Geometrien und klaren Farbkompositionen inspirieren. Unterbrochen wurde die progressive Kultur-Gesinnung von der Stalin-Ära, in der man eher auf Klassik und Zeitlosigkeit setzte, während in den 1960ern Jahren eine Rückbesinnung stattfand und sich darauf folgend der Soviet Modernism etablierte. Für den Westen ist das sowjetische Design wie ein blinder Fleck auf der internationalen Landkarte der Designgeschichte – dabei können gegenseitige Einflüsse über den Lauf der Geschichte identifiziert werden. Das Buch ist eine Reise, die erst durch die Zeit führt und dann ihre Protagonisten vorstellt. Bild und Text sind trotz des mächtigen Formats mehr als gleichberechtigt – es ist ein tiefer Einblick und eine nachhaltige Referenz zur sowjetischen Gestalter-Historie.

Titelinformationen
Kristina Krasnyanskaya und Alexander Semenov. Mit Vorworten von Elizaveta Likhacheva & Christina Lodder
448 Seiten, ISBN 978-3-85881-846-1, 77 Euro, erschienen bei Scheidegger & Spiess, www.scheidegger-spiess.ch

Nicht-Referenzielle Architektur / Gedacht von Valerio Olgiati
Auch bei der Architekturlektüre gibt es Ausgaben, die vielmehr zum Lesen als zum Blättern sind. Trotzdem kommt, soviel vorweggeschickt, bei dem Buch „Nicht-Referenzielle Architektur“ die Ästhetik nicht zu kurz. Das Büchlein ist schlank und gut gekleidet (hellblauer Leinen), verzichtet zugunsten eines dominant geprägten, weißen Titels auf Klappentexte und kommuniziert in extra großer RH Inter Pro Regular, einer Typo, der die eine offensichtliche Verwandtschaft zur Helvetica aufweist. Man kann den Band also durchaus dekorativ auf den Nachttisch legen. Aber auch das Innere hat Anspruch. Denn hier findet sich ein „Manifest für eine neue Architektur“, gedacht und aufgeschrieben von dem Architekten Valerio Olgiato und dem Architekturtheoretiker Markus Breitschmid. Die beiden kennen sich seit 2005 und haben sich wiederholt an verschiedenen Orten zum Diskurs getroffen. Was folgend in verschiedene Essays eingeflossen ist, mündete schließlich in diesem Buch. Das grundlegende Thema der beiden ist der Wandel der Welt und ihrer gesellschaftlichen Strömungen. Während sich die Gegenwart rapide von Ideologien befreit, eröffnet dies neue Chancen für die Architektur. Die beiden Autoren wollen vermitteln, wie in dieser nicht-referenziellen Welt eine passende Architektur entworfen werden kann.

Titelinformationen
Herausgeber: Markus Breitschmid
ISBN 978-3-03860-141-8, 144 Seiten, 25 Euro, erschienen bei Park Books, www.park-books.com

Text: Tanja Pabelick