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Die Intelligenz der Steine

Modulare Dinge leben länger: Sie sind veränderlich, anpassungsfähig und alles andere als starrsinnig.

von Norman Kietzmann, 28.11.2013

Modulare Dinge leben länger: Sie sind veränderlich, anpassungsfähig und alles andere als starrsinnig. Dabei durchdringt die Modularität bereits das ganze Leben. Nicht nur Möbel und Objekte sind durch den Systemgedanken smarter geworden. Selbst elektronische Geräte und der urbane Wohnungsbau werden durch flexible Bauteile revolutioniert. 

Es klang erst einmal wie ein Witz: Als der niederländische Designer Dave Hakken im September 2013 ein modulares Handy vorstellte, hielten ihn viele für verrückt. Ein Smartphone aus Bausteinen? Phonebloks nannte er das Konzept und hielt wacker Ausschau nach Investoren. Keine acht Wochen später hatte er einen gefunden – und zwar von überaus mächtiger Seite. Unter dem Namen Project Ara will die Google-Tochter Motorola das Produkt auf den Markt bringen und damit das über Bord werfen, was unter den Herstellern elektronischer Geräte bislang als ungeschriebenes Gesetzt galt: den eingebauten Verfallswert ihrer Produkte.

Aufgrund der modularen Bauweise sollen die Kunden ihr Telefon nicht nur nach eigenen Vorlieben zusammenstellen und zwischen verschiedenen Prozessoren, Akkus, Displays oder Kameras auswählen. Sollte eine Komponente irgendwann den Geist aufgeben, muss nicht gleich das ganze Gerät in den Müll wandern, sondern lediglich das betroffene Bauteil. Das Ergebnis ist viel mehr als ein Gadget für technikaffine Nerds. Sollte die Idee des Modularen tatsächlich umgesetzt werden, stünde die Elektronikbrache vor einer wirklichen Revolution. 

Urbaner Maßstab
Ortswechsel nach New York: Im Januar 2013 trat Bürgermeister Bloomberg vor die Kameras und präsentierte ein neues Bauprogramm für den steigenden Bedarf an Single-Wohnungen. In einem vorab durchgeführten Wettbewerb hatte sich das New Yorker Architekturbüro nArchitects durchgesetzt. Ihr Vorschlag klingt wie eine unmittelbare Weiterführung von Kisho Kurakawas 1972 fertig gestelltem Nakagin Capsule Tower in Tokio: 55 vorgefertigte Wohneinheiten sollen auf einem Grundstück an der East 27th Street in die Höhe gestapelt werden, die Größe der Module variiert zwischen 23 und 35 Quadratmetern. Micro Units heißt das Konzept, das nach dem Auftakt in Manhattan in den Atlantic Yards in Brooklyn fortgeführt werden soll. 


Um den Bau bis zum Frühjahr 2014 zu ermöglichen, mussten eigens gesetzliche Bestimmungen gelockert werden. Denn bislang war der Bau von Apartments mit weniger als 42 Quadratmetern illegal. Während der Nakagin Capsule Tower stets ein Solitär blieb und aufgrund des desolaten Zustandes seiner 140 Wohneinheiten sogar vom Abriss bedroht ist, ist das New Yorker Projekt tatsächlich als weiterführendes System gedacht. Von den stadtumgreifenden Visionen der japanischen Metabolisten ist dieser Vorschlag zwar weit entfernt. Der Grund für die Renaissance des Modularen ist ein anderer.

Smarte Planung
Denn Bausteine sind schlau. Sie sind schlank, variabel und flexibel einsetzbar. Sie genügen zur ganz großen wie zur winzig kleinen Lösung gleichermaßen. Sie vermögen sich ihrer Umgebung anzupassen und nicht umgekehrt. Genau das macht sie heute wieder aktuell, wo nicht nur Flexibilität in allen Lebenslagen erwartet wird, sondern ebenso der Wunsch nach Individualität. Gewiss, die Idee des Modularen ist aus gestalterischer Perspektive ein alter Hut. Bereits in den fünfziger Jahren wurde damit begonnen, das Bauen zu industrialisieren. Und auch das Wohnen, das Innovationen gegenüber lange erbittert Widerstand geleistet hatte, wurde durch den Systemgedanken neu definiert. 

Mit der Endlosschrankwand wurden Architektur und Möbel zu einer Symbiose verschmolzen, während Bausätze wie das USM Möbelbausystem Haller oder Dieter RamsRegalsystem 606 als universelle Alleskönner gleich die gesamte Wohnung bespielen konnten. „Einen Baukasten kann man verlängern, verkürzen oder erweitern. Er ist veränderlich und kein fixiertes, endgültiges Objekt. In gewisser Weise sind Systeme wie lebende Organismen“, sagt Werner Aisslinger, der mit Add (2013) für Flötotto jungst eine eigene System-Interpretation vorgestellt hat. 

Späte Wiederkehr 
Wurde das Systemmöbel von der Postmoderne zum alten Eisen erklärt, hat sich daran in den vergangenen drei Jahrzehnten erstaunlich wenig geändert. Erst in jüngster Zeit haben Designer und Hersteller den Systemgedanke wieder aufgegriffen, wenngleich auf eine spielerische und alles andere als dogmatische Weise. Anders als in den sechziger und siebziger Jahren, wo ganze Wohnungen aus einer Hand geplant wurden, müssen Systeme heute auch mit Nichtsystemen kompatibel sein. Sie müssen sich einfügen können in eine vorhandene Umgebung und ihre Wandelbarkeit auch ohne den Einsatz schweren Werkzeugs unter Beweis stellen. 

Eine fast schon immaterielle Annäherung an das Thema zeigen die Brüder Bouroullec. Ihre Raumteiler Algues (2004) und Clouds (2008) lassen sich zu komplexen, dreidimensionalen Figuren verdichten, die weder einen Anfang noch ein Ende besitzen. Die Module durchfließen den Raum und fügen dem statischen Dreiklang aus Wand, Boden und Decke eine unberechenbare und wandelbare Komponente hinzu. Einen Ausbruch aus dem orthogonalen Raster wagt auch Ross Lovegrove mit seinem modularen System X (2008) für den Leuchtenhersteller Yamagiwa aus Tokio. Die Lichtbausteine besitzen die Form eines X und können an ihren Enden beliebig in die Länge und Breite addiert werden. 

Erweiterung der Vielfalt
Standen in den sechziger Jahren vor allem Systeme im Mittelpunkt, aus denen gleich der gesamte Wohnraum geplant werden könnte, werden heute etwas kleinere Brötchen gebacken. Dabei wird die Komplexität der universellen Bausätze auf eine übersichtliche Anzahl vorgefertigter Module zurückgeführt. Die Idee erinnert ein wenig an die Micro Units, die derzeit in New York entstehen, wenngleich sie auf den Maßstab des privaten Wohnraums überführt wurde. Ein treffendes Beispiel ist die interlübke-Aufbewahrungsfamilie Cube Play, die ebenfalls von Werner Aisslinger gestaltet wurde. Ihr Vorteil: Die autarken Regal- und Schrankboxen können einzeln oder als Gruppe zum Einsatz kommen. Auch ohne fachmännische Unterstützung lassen sie sich neu kombinieren und an veränderte Raummaße nach einem Umzug anpassen. Der systemimmanente Vorteil dieser Lösung ist ihre individuelle Anpassung. Selbst wenn jeder dasselbe System besäße, sähe es überall anders aus.

Ein Vordenker in dieselbe Richtung war Ferdinand Kramer, der schon in den vierziger Jahren seine universell einsetzbaren Kuben FortyForty entwarf. Diese bilden einzeln einen Beistelltisch, als kleine Gruppe ein Sideboard und als übereinander gestapeltes Rudel schließlich eine große Bibliothek. Der Reiz liegt in der Unmittelbarkeit der Aktion. Ein simpler Griff genügt und etwas Neues entsteht. Ein Prinzip, dass auch in weniger avantgardistischem Umfeld längst Schule gemacht hat. Der italienische Möbelhersteller Molteni&C erweiterte seine voluminösen Polsterserien um eine kleine, fast unscheinbare Sensation: Ein Clustersystem aus flachen Kuben, die addiert und wieder getrennt werden können. Und damit nicht genug: Module appellieren an die Intelligenz der Benutzer, aus ihnen etwas zu machen. Wer das nicht kann, ist selber schuld.

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