Stories

Kisten für alle!

Jede Zeit erfordert ihren eigenen Sinn: Die Geschichte der Möbelsysteme.

von Tim Berge, 27.11.2013

Ein Regal ohne Schrauben, das sich jeder Wand in Höhe und Breite anpasst und mit der Bücher-, Platten- oder Weinsammlung mitwächst: Das Möbelsystem FNP von Axel Kufus aus dem Jahr 1989 avancierte innerhalb kurzer Zeit zum Klassiker und symbolisiert bis heute die gelungene Einheit von Funktionalität und gutem Design. Seine Wurzeln jedoch hat es in einer ganz anderen Zeit: Denn geboren wurde der Systemgedanke in der Industriellen Revolution. Dabei ging es allerdings weniger um gute Bücher oder Wein als um tiefgreifende soziale Umwälzungen.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts schufen innovative Fabrikationstechniken in der Glas- und Stahlverarbeitung neue Möglichkeiten für die Gestaltung – erstmals erschien kostengünstige Massenproduktion möglich: Die Industrielle Revolution gilt deshalb als Auslöser des Neuen Bauens und damit so bedeutender Institutionen wie dem Bauhaus oder der De Stijl-Bewegung, die in den darauf folgenden Jahrzehnten das Design und die Architektur nachhaltig verändern und die Grundlage für Systemmöbel schaffen sollten.

Vom Sofakissen zum Städtebau
„Die neue Zeit fordert den eigenen Sinn. Exakt geprägte Form, jeder Zufälligkeit bar, klare Kontraste, ordnende Glieder, Reihung gleicher Teile und Einheit von Form und Farbe werden entsprechend der Energie und Ökonomie unseres öffentlichen Lebens das ästhetische Rüstzeug des modernen Baukünstlers werden.“ Dieses Zitat könnte – mit Ausnahme der etwas altertümlich klingenden Wortwahl – auch von heute sein, ist aber exakt 100 Jahre alt und stammt Walter Gropius, einem der bekanntesten Architekten der Moderne und Gründungsdirektor des Bauhauses. In dessen Vorläufer, dem Deutschen Werkbund, wurde seit 1907 versucht, eine neue Warenästhetik für die kunstgewerbliche Industrieproduktion zu entwickeln, die Funktion, Material und Konstruktion zu einer schlüssigen Einheit formen sollte: Nach dem Motto „Vom Sofakissen zum Städtebau“ sollten Alltagsgegenstände, einschließlich Architektur, für die ganze Welt produziert werden. Doch das Wirken der Vereinigung blieb größtenteils theoretisch und versandete in ideologischen Debatten und den Umbrüchen des Ersten Weltkriegs. 

Dessauer Freidenker
Die Visionen des Bauhauses dagegen waren eine Initialzündung im Bereich der Produktgestaltung und vereinten tatsächlich neue Produktionsmethoden mit einer funktionalen Ästhetik. Von der Stadtplanung über die Architektur hin zum Kleinmöbel konzipierten die Gestalter aus Dessau ein ganzheitliches Lebensumfeld: Bauelemente wurden genormt und Grundrisse typisiert. In enger Zusammenarbeit mit der Industrie entstanden so die ersten Freischwinger von Marcel Breuer und Mies van der Rohe, und in den von Bauhaus-Architekten entworfenen Siedlungen wurden die Wohnvisionen bis ins kleinste Detail umgesetzt. Das Bauhaus war zweifellos seiner Zeit voraus, daher konnten viele der Entwürfe und Konzepte erst viel später realisiert werden – und das auch nur zu horrenden Preisen, die den sozialen Aspekt ihrer Erschaffer in den Hintergrund treten ließen. 

Systeme mit Sammlerwert
Erst in den 50er und 60er Jahren konnten die theoretischen Vorgaben des Neuen Bauens und seiner Nachfolge-Institutionen verhältnismäßig kostengünstig und in hoher Qualität umgesetzt werden: die eigentliche Geburtsstunde der Möbelsysteme, wie wir sie heute kennen. Entscheidend beteiligt war wieder ein Architekt: Der Schweizer Fritz Haller folgte einer ähnlichen Gestaltungsphilosophie wie einst Walter Gropius und wollte Kunst, Technik und Wissenschaft in seinem Schaffen zu einer Einheit formen, allerdings ohne den sozialen Anspruch erschwingliche Möbel für jedermann so ganz erfüllen zu können. Sein USM Möbelsystem Haller ist bis heute das Musterbeispiel für Flexibilität, Serienproduktion und minimales Design und hat es nicht nur in unzählige Büros und Haushalte, sondern auch in die Sammlung des MoMA geschafft. 

Wer hat's erfunden
Zur gleichen Zeit entstand ein weiteres System – wieder war es ein Schweizer, nur diesmal ein Designer: Walter Müller fand 1963 nach längerer Suche in Leo Lübke, dem Inhaber des Möbelherstellers Gebrüder Lübke, einen Seelenverwandten, der gemeinsam mit ihm das Design nachhaltig veränderte. Seine Vorstellung war ein modulares Baukastenprinzip, mit dem jeder Wohnraum optimal eingerichtet werden sollte, ohne dabei an Individualität zu verlieren: Die Schrankwand fand seitdem nicht nur Einzug in unzählige Haushalte, sie hat bis heute nichts von ihren Qualitäten verloren und lebt in neuen Systemen wie Bookless, S07, Studimo oder cube fort, die allesamt vom Nachfolgeunternehmen interlübke hergestellt werden. 

Ab in die Schule
Auch heute entwerfen Architekten Möbel, nur ist die gesellschaftspolitische Komponente eine andere als vor hundert Jahren: Ging es früher um die Schaffung eines ganzheitlichen Designs, das Antworten auf die drängenden sozialen Probleme der Zeit fand, geht es heute viel mehr um die Schärfung einer gestalterischen Identität mittels spektakulärer Objekte. Gestalter wie Piero Lissoni und Matteo Thun, beide von der Mailänder Schule geprägte Architekten, bilden da eine kleine Ausnahme, wobei ihre Produkte nicht unbedingt etwas für den kleinen Geldbeutel sind. Gleiche gilt auch für Möbelsysteme wie FNP von Axel Kufus und das Regalsystem 606 von Dieter Rams, die zwar längst zu Klassikern geworden sind, aber eher von Sammlern als vom Kleinbürger gekauft werden – vielleicht ist eine Möbelkette wie Ikea der wahre Sozialutopist von heute. Ob sich Designer und Architekten in naher Zukunft auf die soziale Verantwortung von Gestaltung zurückbesinnen, bleibt eine der spannendsten Fragen dieser Tage – dringend nötig wäre es.

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