Einsame Kiste
Die Gestalter aus dem Norden sind präzise Beobachter, Querdenker der Einfachheit, die simple Lösungen finden, ohne auf Raffinesse zu verzichten. Die deutschen Gestalter sind stoische Funktionalisten, die sich in technischen Details verlieren und nach dem Grundsatz „Never change a running system“ handeln. Soweit die gegenseitigen Vorurteile. Wer dieser Tage die Preisträger des Anfang November in Barcelona stattfindenden World Architecture Festivals 2011 studiert, wird zumindest eine der Charakterisierungen als zutreffend befinden: Ausgezeichnet wurde das wohl bekannteste norwegische Architekturbüro, Snøhetta, das irgendwo im Nirgendwo, in direkter Nähe zum namengebenden, höchsten Berg des Landes, eine verglaste Holzbox in der Landschaft landen ließ.
Anderthalb Kilometer über Stock und Stein eines Naturwanderweges führen hier hinauf, auf 1200 Meter über dem Meeresspiegel. Verglichen mit dem Mont Blanc gerade mal ein Aufwärmtraining – in Norwegen aber schon mehr als die halbe Strecke. Die Spitze des Snøhetta liegt auf 2.286 Metern. Wer es bis zum Aussichtspunkt geschafft hat, wird sich der faszinierenden Atmosphäre des Ortes kaum entziehen können: Durch seine Geometrie wirkt der längliche Baukörper seltsam fremd in der weichen Landschaft mit ihren kargen Felsen. Archaisch und futuristisch ist er, aber dennoch zu einem harmonischen Bestandteil des Panoramas geworden. Fernab der Zivilisation bietet er Ausflüglern einen Schutzraum in der Natur, für die sie hierher gereist sind. Der Kubus ist ein Pavillon des Norwegian Wild Reindeer Centre und bietet einen Ausblick auf den Dovrefjell National Park und die hier lebenden Wildtiere. 75 Quadratmeter misst der Pavillon und ist mit einem Fenster zur einen Längsseite und einem offenen Bereich zur anderen ausgestattet. Getrennt werden beide von einem quasi eingeschobenen, organisch geformten, hölzernen Blob, der durch seine Vorsprünge und Einbuchtungen an Front und Rücken Sitzflächen für die Besucher bietet. Wie ein angeschmolzener Eisblock liegt er mächtig in seinem Rahmen.
Bergmythen
Die Geschichte der Gegend im geografischen Dreieck von Oslo, Trondheim und Bergen ist ein wichtiger Teil der norwegischen Historie. Schon die Gründungsväter der nationalen Verfassung stützten sich bei deren Verabschiedung auf das im Zentrum des Landes gelegene Bergmassiv und schworen Worttreue „bis zum Fall von Dovre“ – und meinten damit für immer. Legenden ranken sich um diesen Ort, Dichter wie Ibsen ließen ihn zum Schauplatz ihrer Werke werden und Musiker widmeten ihm ihre Stücke. Die Erzminen der Gegend wurden zur Lebensgrundlage von Generationen, während die Jäger die Berge durchstreiften und das Militär hier Stützpunkte unterhielt. Dovre ist Teil des norwegischen Bewusstseins, mythisch aufgeladen und gleichzeitig gewaltig.
Wildlife-Spotting
Heute ist die Hauptattraktion die Natur selbst. Herden von Moschusochsen und Rentieren durchstreifen die Gegend, mit viel Glück lässt sich zwischen den Gesteinsmassen das weiße Fell der Eisfüchse ausmachen. Das natürliche Habitat für Flora und Fauna ist von einem rauen Klima bestimmt – und dem muss auch das Zentrum standhalten können. Die Architekten wählten für den Rahmen des Gebäudes ein Material, das widerstandsfähig genug für diese Klimatbedingungen ist und gleichzeitig Bezug auf den Ort nimmt: Rohstahl ummantelt den Holzkörper, durch die Bewitterung bildet sich auf seiner Oberfläche langsam eine Rostschicht, die an die Eisenerzvorkommen der Gegend erinnert. Mit der Zeit nähert sich so die Architektur der Natur an. Und das soll auch der Besucher. Geschützt vor dem Wetter, gewärmt von einem freischwebenden Kamin bietet sich ihm das volle Panorama durch die Fensterfront dar.
Wie der Blob in die Kiste kam
Um den eindrucksvollen Holzblock zu realisieren, wurden moderne Konstruktions- und Fertigungsverfahren mit Handwerk und lokalen Bautraditionen kombiniert. Die digitalen Daten des Computermodells der Architekten wurden zur Steuerung der Fräsmaschinen genutzt, die aus 25 Zentimeter dicken Vierkanthölzern die Bausteine für die Sitzlandschaft herausarbeiteten. Feinschliff und Zusammenbau führten Schiffsbauer aus dem Hardangerfjord aus, zum Fügen wurden ausschließlich Holzdübel verwendet. Auch für die Oberflächenbehandlung bedienten sich die Handwerker jahrhundertealter Rezepte: Im geschützten Innenbereich wurde das Holz geölt, die nach außen weisenden Flächen wurden mit aus Kiefern gewonnenem Teer bestrichen. Wer hier mit dem Fernglas bewaffnet seine pølse in die Kaminglut hält und auf eine Moschusochsen-Familie wartet, wird kaum noch Freude an den deutschen Hochsitzen finden, die mit staksigen Beinen wackelig in die Landschaft schauen. Aber vielleicht inspiriert der Ort ja auch den ein oder anderen Konstrukteur der heimischen Jägersitze zu einem „change of the running system“.
FOTOGRAFIE Klaas van Ommeren
Klaas van Ommeren
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